Das Billiglohnmekka greift nach den Sternen


Indien Strasse belebtIndien ist auf der Überholspur. Schweizer Firmen können und wollen da nicht abseits stehen und investieren kräftig in den Subkontinent – trotz einer Reihe von Problemen: Bürokratie, Zölle und miserable Infrastruktur vermiesen oft das Geschäft. Derweil herrscht da und dort bereits Mangel an qualifiziertem Personal, was die Löhne explosionsartig in die Höhe treibt.

Sitzen zehn Chinesen in einem Raum, ist es schwierig, einen zum Reden zu bringen. Sitzen zehn Inder in einem Raum, ist es schwierig, einen zum Schweigen zu bringen.» Dieser Witz macht in Europa die Runde, wo immer über die beiden boomenden asiatischen Märkte diskutiert wird.

Aber viel geredet wird nicht nur in, sondern auch über Indien. Bereits liefert der Subkontinent mehr Schlagzeilen als China. Die halbe Welt blickt nach Delhi, Kalkutta und Mumbai, und nicht nur jetzt, wo Lakshmi Mittal das Rennen um den luxemburgischen Stahlkonzern Arcelor gemacht hat und fortan den Weltmarkt dominieren wird. Andere Länder müssten endlich erkennen, dass Indien in der «neuen globalen Architektur» zu einem wichtigen Akteur werde, sagte kürzlich der indische Wirtschaftsminister Kamal Nath. Er hat Recht.

Die Schweiz ist in Indien omnipräsent. Das erkennt man nicht nur an den Villiger-Zigarren oder der Lindt-Schokolade in der Minibar des Luxushotels «Taj West End» in Bangalore. 140 Firmen mit 25 000 Arbeitsplätzen sind in Indien vertreten, und das Geschäft läuft auf Hochtouren. So erzielte ABB letztes Jahr mit einem Umsatz von 600 Millionen Dollar mehr als 30 Prozent Wachstum, und im Januar 2006 eröffnete der Technologiekonzern in Bangalore ein Forschungs- und Entwicklungszentrum. Die UBS meldete diese Woche einen Ausbau im südindischen Hyderabad, wo die Grossbank ein Backoffice betreibt. Dort sollen in einem Jahr 1500 Mitarbeiter beschäftigt sein. Kuoni hat es in den letzten zehn Jahren geschafft, sich auf dem indischen Markt als die Nummer 1 zu etablieren, und zwar sowohl beim Verkauf von Reisen vor Ort als auch beim weltweiten Verkauf von Reisen nach Indien. Noch eindrücklicher sind die Ausbaupläne internationaler Unternehmen: IBM pumpt in den kommenden drei Jahren sechs Milliarden Dollar nach Indien – drei Mal mehr als in den vergangenen drei Jahren. Der US-Konzern beschäftigt in Indien 43 000 Mitarbeiter.

Das rasante Wachstum hat auch Schattenseiten

Die indische Wirtschaft ist letztes Jahr um 8 Prozent gewachsen. Im ersten Quartal 2006 waren es fast 10 Prozent – praktisch gleich viel wie in China. Und die Aussichten für die kommenden Jahre sind gut, weil Indien eine der jüngsten Populationen und damit ein riesiges Potenzial an Konsumenten hat. Ein Drittel der Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt. Im Jahr 2020 wird das Durchschnittsalter bei 29 Jahren liegen, was im Vergleich mit China und den USA (jeweils 37 Jahre), Westeuropa (45) und Japan (48) sehr tief ist. Ökonomen sprechen daher von einem demografischen Zeitfenster oder von einer demografischen Dividende.

Indien Angestellte Call CenterAber das rasante Wachstum hat auch Schattenseiten. So kann etwa die Infrastruktur längst nicht Schritt halten mit der ökonomischen Entwicklung. Die Weltbank schätzt hier den Nachholbedarf auf 425 Milliarden Dollar. Kein Mensch weiss, woher das viele Geld kommen soll. Um See- und Flughäfen, Strassen, Wasser-, Telefon- und Stromleitungen zu sanieren, hofft die indische Regierung jetzt auf 150 Milliarden Dollar von ausländischen Investoren.

«Gute Mitarbeiter können ihr Einkommen in zwei bis zweieinhalb Jahren locker verdoppeln.» – Anjan Lahiri, Gründer der Beratungsfirma Mindtree Consulting, Bangalore.

Nicht nur die Infrastruktur, sondern das gesamte politische Umfeld kann offenbar nicht Schritt halten. Das renommierte indische Magazin «Frontline» fragt sich, ob Indien die Chancen ganz einfach verpasst, die ihm das demografische Fenster verschafft. «Das politische Umfeld ist jedenfalls nicht gerade förderlich, um diesen Vorteil tatsächlich zu nutzen», schreibt das Magazin. Vorsichtig optimistisch beurteilt der britische «Economist» die Lage: Indien habe zwar abgehoben, aber um richtig fliegen zu können, brauche es tief greifende Reformen. Offen ist etwa die Bekämpfung der Armut auf dem Land. «Wir dürfen die ländlichen Gebiete nicht vernachlässigen, denn von dort stammen bei den Parlamentswahlen 70 Prozent der Stimmen», warnt Amitava Tripathi, der indische Botschafter in der Schweiz.

Ein weiteres Problem ist die Qualität von Dienstleistungen. Firmen, die auf dem Subkontinent Callcenter betreiben, ziehen sich zurück. So hat der Energieversorger Powergen, der in England sechs Millionen Abnehmer hat, angekündigt, künftig wieder alle Anrufe direkt in Grossbritannien zu beantworten. Auch die britische Grossbank Abbey National zieht sich aus dem Indien-Abenteuer zurück.

In den Technologiezentren, vorab in der IT-Branche, zeichnet sich derweil ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften ab, obschon Jahr für Jahr drei Millionen neue Hochschulabsolventen auf den Markt gespült werden – darunter 400 000 Ingenieure. Aber: «Es fehlt an Leuten mit Berufserfahrung», sagt Anjan Lahiri, Gründer der Beratungsfirma Mindtree Consulting. Als er in Bangalore per Inserat 200 Mitarbeiter suchte, fanden sich vor dem Gebäude gut 10 000 Leute ein. Lahiri ist überzeugt, dass mindestens 8000 Bewerber unbrauchbar waren. Ähnlich gehts den ganz Grossen wie Infosys (siehe auch Interview auf der folgenden Seite). Der Softwaregigant will dieses Jahr 25 000 neue Stellen schaffen und hat dafür 1,2 Millionen Bewerbungen erhalten. Parallel zur Nachfrage nach Personal mit Berufserfahrung steigen die Löhne. «Gute Leute können ihr Einkommen in zwei bis zweieinhalb Jahren locker verdoppeln», sagt Lahiri. Wer im Januar einen neuen Job anfängt, kann Mitte Jahr mit 30 Prozent mehr Lohn rechnen. Verweigert die Firma den Lohnsprung, ist der Mitarbeiter weg. «Wer mit seiner Arbeit unzufrieden ist oder Probleme mit dem Chef hat, findet in einem Tag drei neue Jobs.» Und zwar – untypisch für Indien -, ohne viel Worte zu verlieren.

Cash, 29.6.2006, Seite 1 (PDF)   Cash, 29.6.2006, Seite 2 (PDF)


Schweizer Unternehmen in Indien: Gefragt sind Ausdauer, Nerven und viel Geduld

UBS: Das Ringen um Lizenzen

Indien UBS LogoDie Grossbank UBS ist seit 1990 in Indien vertreten, und zwar in Mumbai. Heute arbeiten dort im Bereich Investment Banking und Securities rund 60 Angestellte. Im südindischen Hyderabad besteht seit drei Monaten ein Backoffice, wo vor allem IT-Jobs angesiedelt sind. Zudem liefert das Büro Unterstützung für die Analysten. In Hyderabad will die UBS massiv ausbauen und verlagert gar Arbeitsplätze aus London, Singapur und den USA dorthin. Insgesamt werden 50 Millionen Franken investiert. Nach dem Endausbau 2007 rechnet die Grossbank allein in Hyderabad mit 1500 Mitarbeitern. Etwas problematischer siehts beim Private Banking aus, wo die UBS unbedingt auch einen Fuss in der Türe haben möchte. Hier bemüht sie sich um eine Lizenz für das Privatkundengeschäft. Das Indien-Engagement der UBS war auch der Grund, weshalb Adalbert Durrer, ehemals CVP-Chef und heute UBS-Direktor mit Spezialgebiet politische Beziehungen, im Januar 2006 mit einer Delegation im Gefolge von Wirtschaftsminister Joseph Deiss den Subkontinent bereist hat.

ABB: Das Warten auf Reformen

Indien ABB LogoDer schwedisch-schweizerische Energie- und Technologiekonzern ABB ist seit 1963 in Indien aktiv. Heute arbeiten an acht Standorten 3200 Angestellte. Der grosse Wachstumsschub erfolgte in den letzten zehn Jahren. Konzernchef Fred Kindle ist ungeduldig: «Die Regierung beschliesst zwar seit den Neunzigerjahren immer wieder Reformen, aber viel zu wenige davon werden umgesetzt.» Die indische Demokratie zerzause sich in den Debatten und wisse nicht, «wie sie den linken Fuss vor den rechten stellen soll». Am meisten Kopfzerbrechen bereiten dem Konzern die Verkehrswege sowie der Zustand der See- und Flughäfen. Auch die Bürokratie kostet Nerven: «Die Mühlen malen langsam», heisst es am Hauptsitz in der Schweiz. Man müsse improvisieren, sich anpassen und Verzögerungen, etwa bei den Lieferzeiten, einplanen. Aber bei allen Problemen laufe es in Indien sehr gut, und die Aussichten seien erstklassig. Indien sei – neben China – der Wachstumsmarkt schlechthin. 2005 machte ABB auf dem Subkontinent 600 Millionen Dollar Umsatz.

Kuoni: Der Ärger mit den Flughäfen

Indien Kuoni LogoDer Reisekonzern Kuoni wurde in der Schweiz oft belächelt, als er in den vergangenen zehn Jahren Akquisitionen auf dem Subkontinent tätigte. Das Engagement war zeitlich perfekt und hat sich ausbezahlt. Heute ist Kuoni bereits die Nummer 1, und zwar sowohl im Verkauf von Reisen in Indien (Outbound) als auch im Verkauf von Reisen nach Indien (Inbound). Neuste Akquisition im Inbound-Geschäft war vor wenigen Tagen «Distant Frontiers». Inzwischen beschäftigt Kuoni in Indien über 2000 Mitarbeiter, was rund einem Viertel der gesamten Kuoni-Belegschaft entspricht. Indien hat 2005 mehr als 180 Millionen Franken zum Konzernumsatz beigetragen. Kuoni-Chef Armin Meier ist überzeugt, in den nächsten Jahren zweistellige Wachstumsraten zu erreichen. «Unsere Strategie ist auf den Ausbau der Marktführerschaft ausgerichtet.» Sorgen bereiten ihm Kapazitätsengpässe bei Flügen und Hotelzimmern. Auch Kuoni drängt auf einen raschen Ausbau von Strassen und Flughäfen. Gelinge dies, könne sich der Inbound-Verkehr von heute 3,5 Millionen Passagieren verfünffachen.

Novartis: Der Kampf für Patentschutz

Indien Novartis LogoNovartis ist seit Dezember 1947 in Indien vertreten und beschäftigt dort heute 2250 Mitarbeiter. Und eigentlich will Novartis auf dem Subkontinent kräftig weiter wachsen – «vorausgesetzt, die Patentsituation entwickelt sich befriedigend», wie es in Basel heisst. Tatsächlich ist der lückenhafte Schutz des geistigen Eigentums die Hauptsorge der ganzen Pharmabranche. Alexandre Jetzer, Verwaltungsrat bei Novartis und «Aussenminister» des Konzerns, sprach im Januar 2006 vor Vertretern der indischen Wirtschaft und Regierung Klartext: «Wir erwarten klare Verbesserungen beim Datenschutz für die pharmazeutische Industrie sowie bei der Definition der Patentierbarkeit.» Das indische Parlament hatte 2005 zwar ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, aber der Entwurf der Regierung wurde mit Rücksicht auf einheimische und regionale Interessen ziemlich arg zerpflückt. Ein weiterer Ärger sind die Importzölle. Novartis fordert deren Senkung, um die Medikamentenpreise für Patienten senken zu können.

Bühler: Das Kreuz mit den Zöllen

Indien Bühler LogoDer Maschinenbauer Bühler ist weltweit in 140 Ländern präsent. In Indien hat er mit Anlagen zum Mahlen von Getreide Fuss gefasst. «Der Anfang 1992 war nicht einfach», erinnert sich Konzernchef Calvin Grieder. Das Unternehmen musste lernen, statt auf Perfektion auf die Bedürfnisse des Marktes zu achten. Im laufenden Jahr will Bühler in Indien mit 200 Mitarbeitern 40 Millionen Franken Umsatz machen. Der Ausbau in Indien stützt auch das Mutterhaus in Uzwil SG: Parallel zum lokal erzielten Umsatz steigen nämlich auch die Exporte aus der Schweiz. «Das zeigt, dass von Auslagerungen auch der Standort Schweiz profitiert», sagt Grieder. Sein Hauptproblem sind die indischen Zollbestimmungen, die jährliche Kosten von 250 000 Franken verursachen. So kassiert Indien besonders hohe Zölle auf importierte Komponenten, mehr als auf ganze Maschinen, was sich «inverted duty structure» nennt. Auch müssen Teile verzollt werden, die eigentlich zollfrei wären, wie alle Teile, die in der Lebensmittelindustrie eingesetzt werden.


Tipps vom Experten

Ein Schweizer Rechtsanwalt, der auf Verträge mit Indien spezialisiert ist, erzählt von den Problemen und gibt Ratschläge für den Business-Alltag:

  • Direkter Kontakt und ein gutes Einvernehmen mit Regierungsvertretern sind wichtig. Die normalen Beamten finden immer tausend Gründe, warum dieses oder jenes nicht geht.
  • Klare Antworten sind schwierig zu erhalten. Nach einem Gespräch ist es daher nötig, die Schlussfolgerungen selber zu formulieren.
  • Solange noch kein Vertrag unterzeichnet ist, sind Abmachungen nicht verbindlich. Oft taucht ein Inder einen Tag nach dem Deal noch mit neuen Ideen und Wünschen auf.
  • Die Besitzverhältnisse einer Firma sind oft unklar. Transparenz schaffen!
  • Ein Joint-Venture-Partner sollte sorgfältig ausgewählt werden. Manche machen ewig die hohle Hand.
  • Direktinvestitionen ohne lokale Partnerschaften sind schwierig, weil dann ein Türöffner fehlt.
  • Meist heuert man für die Aktivitäten in Indien vorerst einen Agenten vor Ort an. Diesen wird man dann später, wenn das Geschäft erfolgreich und es für den Agenten eine Schuhnummer zu gross geworden ist, kaum mehr los.

Stichwort Indien

Indien KarteVolle acht Tage benötigt ein Lastwagen für die 2000 Kilometer lange Strecke von Kalkutta nach Mumbai. 32 Stunden steht er dabei an Checkpoints oder Zollstationen. Dieses Beispiel zeigt die Hauptsorgen der Unternehmen auf dem Subkontinent: Infrastruktur und Bürokratie. Das Wirtschaftswachstum betrug vergangenes Jahr 8 Prozent, Tendenz steigend. In Indien leben 1,1 Milliarden Menschen – die meisten in Armut. Zum Vergleich: Experten gehen davon aus, dass ein Inder im Durchschnitt nur halb so viel Geld hat wie ein Chinese. Zur kaufkräftigen, gebildeten, Englisch sprechenden Mittelschicht zählen in Indien nur 50 bis 100 Millionen Menschen.


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